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Rock  Magazin

Albumsrezension: Escape Routes

APE AMPLITUDE
Albumsrezension: Escape Routes

Escape Routes heißt das neue Album von Ape Amplitude, ein Gemeinschaftsprojekt zweier Musiker mit Herzblut und Überzeugung, die man hier bei MyOwnMusic niemandem mehr vorstellen muss. Neun Stücke haben Achim Wierschem (Mindmovie) und Peter Zahn (PAZion) zusammengetragen, wobei das erste Stück, ein fulminanter Dreißigminüter, eigentlich aus vier gegliederten Songteilen besteht, die jeweils stetig ineinanderfließen. Alles in allem ist Escape Routes ein packendes Progressive Rock-Album geworden, das alle Stimmungen von Trauer bis Sehnsucht, von Angst bis Hoffnung nachzeichnet und sich musikalisch mit den vielen Herausforderungen und Problemen auseinandersetzt, die aktuell unsere Gesellschaft beschäftigen. Da werden mit Instrumenten Geschichten formuliert, da werden uns mit Gitarre, Bass und Piano, mit Sound und Groove die Erlebnisse der Protagonisten nahegebracht, die in den musikalischen Erzählungen ihre Höhenflüge und Abstürze durchleben. Neben all dem ist das Album aber eben auch das, was viele Hörer hier bei MyOwnMusic am meisten interessiert: Ein amtliches Stück Rock-Musik. Hochwertig produziert, technisch brillant mit einer enormen Portion Gefühl eingespielt und kompositorisch beeindruckend arrangiert. Nachfolgend möchte ich kurz auf die einzelnen Stücke eingehen.

 

Sehr atmosphärisch beginnt das Album mit A Long And Painful Path – Chapter I-IV. Der Song ist, wie der Titel bereits verrät, in vier Kapitel geteilt und erzählt mit musikalischen Mitteln die unglückliche Reise eines Migranten aus Afrika. Departure ist das erste Kapitel. Der Teil beginnt sehr ruhig und melancholisch mit den Klängen einer Viola. Die Sehnsucht dringt in diesem Anfang deutlich durch. Allerdings wird der Track schnell aufgekratzter und verstärkt dringen optimistische Klänge, vielleicht den Aufbruch symbolisierend, durch. Immer wieder findet der Spannungsbogen jedoch den Weg zurück in das traurig-schöne Motiv vom Anfang, möglicherweise ein Blick zurück im Heimweh. Man mag das Auf und Ab als die Höhepunkte und Tiefpunkte, die Erwartungen und die Rückschläge des Reisenden interpretieren. Und am Ende fließt dieser erste Abschnitt stetig in das zweite Kapitel Seawatch 3 über. 

 

Es beginnt mit stimmungsvollem Meeresrauschen. Der Reisende hat nun die nordafrikanische Küste erreicht und abgelegt. In den Fängen der Fluten hofft er auf Rettung. Eine Weile dominiert eine eher düstere Stimmung, bevor die Gitarre energischer wird und Dynamik aufbaut. Ab 6:35 löst die Leadgitarre mit einem fulminanten Solo die Spannung. Aber auch dieses Kapitel ist von starken Stimmungsschwankungen geprägt und spätestens ab 9:16 wird die Atmosphäre dramatisch. Wieder wird das Material ruhiger, jetzt unterstützt von einer cleanen Gitarre und sogar Flötenklängen. Als Hörer gewinnt man den Eindruck, es braut sich etwas zusammen. Langsam steigert sich das Stück von der Stelle an immer weiter, bis auch diese Zwischenphase wieder in einem kurzen Gitarrensolo aufgeht. Allerdings bricht auch diese kurzzeitige Explosion rasch wieder ab und das Kapitel fällt wieder in ein düsteres Loch. Nur um anschließend wieder an Dynamik anzuziehen. Auch hier dürfte das Auf- und Ab das Wechselspiel aus Hoffnung und Niedergeschlagenheit der Geschundenen symbolisieren. Wird man im nächsten Hafen anlegen dürfen? Wird man weggeschickt werden? Wird die Reise weitergehen? Das Kapitel Seawatch 3 fängt diese Emotionen beeindruckend ein. Die Euphorie nach der Rettung im Meer. Die Angst, wenn dann in Europa die Hafeneinfahrt verweigert wird. Das Aufkeimen von Hoffnung, wenn sich eine Lösung andeutet. Die Verzweiflung, wenn diese Lösung wieder kollabiert. Und so wechseln sich Höhen und Tiefen musikalisch ab. Bis das Kapitel zum Schluss ganz ruhig und erneut zu Gitarren- und Flötenklängen im schäumenden Meeresrauschen endet. Der Kreis schließt sich. Die europäische Küste ist endlich erreicht.

 

Und dennoch beginnt das dritte Kapitel The Coast of Europe nicht mit der erwarteten Freude. Stattdessen spielt zunächst nur eine melancholisch anmutende Gitarre. Erst ab 16:28 beginnt eine merkliche Explosion und das musikalische Material rockt nun mit sprühender Dynamik nach vorne. Trotzdem wird die Stimmung zwischenzeitlich immer auch mal wieder zurückhaltender, ein Zeichen dafür, dass trotz der Ankunft in Europa noch nicht alle Hürden überwunden sind. In jedem Fall entwickelt dieses dritte Kapitel insgesamt viel Energie und Spielfreude. Vorwärts scheint die Richtung zu sein. Hoffnung und Optimismus werden spürbar, wenngleich zwischendurch immer auch wieder melancholische Klänge durchschallen. Das Kapitel endet dennoch ganz still in einem dramaangehauchten, pianogetragenen Part. Man hört dazu im Hintergrund Schritte und schließlich Geräusche und Durchsagen, die darauf schließen lassen, dass der Reisende an einem Flughafen angekommen ist.

 

Die plötzliche Wendung hin zu dem dramatischen letzten Teil ist zunächst schwer zu verstehen. Sie wird klar beim Lesen des Namens des vierten und abschließenden Kapitels: Deportation. Hier endet also die Reise. Unerwarteterweise entwickeln sich in diesem vierten Teil aber auch einige optimistischere Klänge und man hat das Gefühl, die Sologitarre rockt hier und da mit positiver Energie nach vorne. Vielleicht ist der Reisende innerlich aufgewühlt. Vielleicht kämpft die Frustration über den Verlust der Zukunft im Westen mit der Vorfreude Heimat, Freunde und Verwandte wiederzusehen. Das Stück endet schließlich zu den Klängen der Viola, die wir ganz vom Beginn der Reise her kannten. Und mit einem traurigen Klavier, in dem sich noch einmal die ganze Dramatik der Wanderung ausdrückt. Die Entbehrungen. Die Lebensgefahr. Der Erfolg endlich am erhofften Ufer in Europa zu stehen. Und schließlich die Heimkehr, wenn all die Hoffnungen vergebens waren.

 

A Long And Painful Path ist meisterhaft arrangiert. Das Stück erzählt eine Geschichte, wie sie heutzutage unzählbar oft vorkommt. Ohne Gesang. Ohne Text. Nur mit der Strahlkraft der Musik. Und dennoch kann man den Spuren des Reisenden folgen, seine Stationen, sein Leid, seine Hoffnungen nachvollziehen. Ohne den weiteren Tracks der CD etwas wegnehmen zu wollen, ich denke A Long And Painful Path ist das prägende Juwel des Albums. Mit knapp über 30 Minuten muss man als Hörer ein bisschen Zeit mitbringen. Dennoch wird man für die Investition reich entlohnt und die halbe Stunde vergeht wie im Fluge, was sowohl der packenden Komposition als auch dem beeindruckenden Spannungsbogen zu verdanken ist. Einem der gesichterlosen Helden der Tragödien, die sich derzeit auf dem Mittelmeer, seinen Häfen und in unseren westlichen Behörden abspielen, ist mit diesem monumentalen Werk ein Denkmal gesetzt worden.

 

An diesen ersten starken Track schließt sich dann als zweiter Song Last Exit Suicide an. Wie der Titel vermuten lässt, schwebt eine bedrückende Stimmung über diesem Material. Wunderschön ergänzen sich hier Klavier und eine melancholische Gitarre. Dieser Song steckt manchmal voller Energie und hat trotzdem immer auch eine von Trauer geprägte Atmosphäre. Musikalisch ist die Nummer einfach unheimlich gut gemacht und wie über das gesamte Album hinweg, überzeugt die traumhaft gespielte Sologitarre. Ganz am Ende des Stücks, ab 5:55 gibt es sogar noch eine kurze Gesangseinlage. Eine Rarität auf diesem Album, das ansonsten eigentlich eine reine Instrumentalproduktion ist.

 

Dopeland ist dann das dritte Lied der CD. Den ungewöhnlichen Anfang bildet eine gesprochene Passage, die über eine Soloeinlage bei 2:14 die Metamorphose in einen etwas Tool-lastigen Teil und dann ab 2:29 in einen amtlichen Hardrockpart durchläuft. Gekonnt eingestreut in das Songgerüst werden immer wieder kleinere Leadgitarrenelemente. Und auch hier fällt auf, wie der Spannungsbogen den Hörer innerhalb weniger Sekunden in immer wieder neue überraschende Stimmungen werfen kann. So geht der Song aus einer rauen rockigen Passage plötzlich in eine zarte, melodiegetragene Harmoniefläche über, die mild dahinfließt, um sich von dort wieder schrittweise zurück ins Rockgenre zu entwickeln. Und vor dem Schluss bekommt der Hörer noch ein Wahnsinnssolo serviert. Insgesamt ist es einfach eine enorm faszinierende Kompositionsleistung, die sich gerade auch bei Songs wie Dopeland zeigt. Nie lässt sich absehen, was in 20 Sekunden passieren wird. Wie der Song in einer Minute klingen wird. Und egal wie dramatisch die Stimmungswechsel sind, nie hat man das Gefühl, dass der Song seinen roten Faden verliert.

 

Der vierte Song des Albums, The Drinker, kommt unheimlich smooth daher und hebt sich vom bisherigen Material dadurch ab, dass er weitestgehend in einer Stimmung bleibt. Der Hörer glaubt, er sitzt in einer verrauchten Kneipe und lauscht den Künstlern live. So nah, roh und unmittelbar klingt der raue Gitarrensound. Und mein Gott, was dürfen wir hier für eine fantastische Soloarbeit genießen! Da macht es als Gitarrist einfach Spaß zuzuhören. Dazu ein packender Groove und dieses Gänsehaut-Feeling, das die Qualität des gesamten Albums von der ersten bis zur letzten Minute ausmacht. Neben dem Titeltrack ist The Drinker mein persönliches Highlight auf der CD.

 

Mit Donnergrollen beginnt dann der fünfte Track, Turning My Back To The City, bevor sich die Stimmung doch harmonischer präsentiert, als das bedrohliche Intro hätte vermuten lassen. Insbesondere die aufregenden Drums fallen in diesem Song auf. Es gibt vielleicht ein bisschen weniger Reibung als bei The Drinker und die verschiedenen Elemente weben sich zu einem sehr harmonischen Soundteppich zusammen. Und auch hier ergänzen sich die vielen bunten Motive zu einer beeindruckenden Synergie. Besonders die Sologitarre setzt immer wieder spannende Akzente.

 

Mit Flagolets beginnt schließlich Virtual Reality, der sechste Track. Gerade während der ersten Minute wirkt der Song sehr filigran und fein gestrickt. Mit der einsetzenden rockigeren Gitarre gewinnt die Nummer dann allerdings doch eine straightere Dynamik und spätestens ab 2:02 klingen auch leichte Hardrock-Akzente durch. Immer wieder bricht sich die pure Spielfreude einen Weg durch das ansonsten eher geschmeidige, groovige Arrangement. Insbesondere die beiden Soli ab 2:16 und ab 4:27 stechen besonders hervor durch ihre gefühlvolle Performance und auch technische Klasse.

 

Mit traurig-zarten Pianoklängen steigt dann das siebte Lied Escape To Women’s Shelter ein und die Dramatik erhöht sich weiter mit einsetzenden Streicher- und Flötensounds. Über das Arrangement legt sich melancholisch die Gitarre. Aus der Komposition spricht die Verzweiflung der Getriebenen, deren Geschichte der Song erzählt. Ohne Worte gelingt es mit eleganten musikalischen Mitteln ein Narrativ zu formulieren. Insbesondere in den traurigen und melancholischen Momenten des Lebens wird das Stück zum Lebensgefühl des Hörers passen.

 

Requiem For A Dying Planet ist der achte und mit nur knapp über vier Minuten auch der kürzeste Song auf dem Album. Diese Nummer setzt auf ein ähnliches kompositorisches Konzept wie Escape To Women’s Shelter und beginnt ebenfalls mit einem Piano. Auch diesem Track wohnt eine tiefe Traurigkeit inne. Ungewöhnlich ist hier, dass die Sologitarre, die das Album Escape Routes weitestgehend als Schlüsselinstrument dominiert, erst relativ spät, kurz vor Ende einsteigt und sich auch mehr als bei anderen Tracks im Hintergrund hält. Entsprechend steht hier stärker die Gesamtkomposition im Fokus und die Gitarre leistet mehr Support als Hauptakzente zu setzen. Das ist ein interessanter Kontrast zu den anderen Songs des Albums und gibt Requiem For A Dying Planet einen ganz eigenen zauberhaften Charme.

 

Der neunte und letzte Track schließlich heißt A Little Light Of Hope. Damit steht dieser Song alleine schon thematisch in krassem Gegensatz zu den Geschichten, die in den acht vorherigen Stücken erzählt worden waren, von der vergeblichen Reise eines Migranten bis hin zum Unglück eines Alkoholikers, von der Flucht in ein Frauenhaus bis hin zum Sterben unseres Planeten. Und so freut man sich als Hörer, dass die CD am Ende doch auf einer positiven, optimistischen Note endet. Viel haben wir Menschen schon immer nicht richtig gemacht, aber ein Lichtstrahl der Hoffnung auf eine bessere Welt scheint eben doch immer noch auf uns herab und wer ihn sehen möchte, kann die Gelegenheit ergreifen. Musikalisch wird A Little Light Of Hope von den Klängen einer Akustikgitarre dominiert. Und ich kann mir nicht helfen, für meine Ohren klingt der Stil von Snuffy Waldens Werk für Wunderbare Jahre – immer dramatisch und gleichzeitig ein bisschen traurig und gleichzeitig ein bisschen fröhlich – durch und ein größeres Kompliment kann man, glaub ich, nicht machen. Es ist ein würdiger Abschluss eines tollen Albums, das sich in jedem CD-Regal gut machen wird.

 

Mir persönlich hat Escape Routes ganz hervorragend gefallen. Wer interessiert ist, kann sich die Stücke hier bei MyOwnMusic anhören. Die CD, die ganz frisch aus dem Presswerk kommt, ist über die Bandwebseite des Ape Amplitude-Projekts erhältlich. Wenn euch die Arbeit so begeistert wie mich, dann bestellt euch doch hier das Album für kleines Geld und helft mit die Künstler, die so viel Herzblut in dieses Werk gesteckt haben, zu unterstützen. Dafür sind wir doch eine Musik-Community! Ich spreche in jedem Fall eine persönliche Empfehlung aus und bedanke mich, dass ich das damals noch geheime Album in einer Vorabversion hören durfte.

 



Kommentare

Tragoudi
Tragoudi August 2019
so auch wenn mein deutsch etwas gerostet ist.. (sorry) ich kann den inhalt gut verstehen.

big hand for this very detailed review - i absolutely agree!

surely everyone interprets music/art in his own way, but when you take your time and go deeper into
the sounds one can feel it. as mentioned in another thread - story telling at it's best!

subpop
subpop August 2019
Eine tolle Rezension, danke dafür.

APE AMPLITUDE
APE AMPLITUDE August 2019
wir bedanken uns ganz herzlich für dieses tolle Album Review. Es ist selten das sich jemand soviel Mühe gibt und bereit ist so tief in die Musik einzutauchen.


von  stampeed am 08.08.2019
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