Cookie Consent by Free Privacy Policy Generator website
MyOwnMusic

Unerbittlich Eigen

Unerbittlich Eigen

Blog

Unerbittlich Eigen am 29.02.08 um 14:58

über mich

*1956 - meine Eltern bringen das Wirtschaftswunder voran, derweilen ich meinem Urgroßvater zwischen den Füßen herumkrabbele, während er seinen Sangesschülern das klassische Gesangbuch von Mozart über Schumann bis Wagner eintrichtert. Zum Ausgleich beschallt mich Vater mit Charlie Parker & Konsorten, die Lücke zwischen Klassik und Bebop schließen Mutter und Großmutter (deren Karriere als Opernsängerin am Kriegsausbruch scheiterte) mit ihrem unerschöpflichen Liedgut von Lehar bis zur Piaf (Kinderlieder sollen auch darunter gewesen sein).
In den Sechzigern tingelt Mutter mit Operettentheater (damaliges Äquivalent zum heutigen Musical) durch das Land und finanziert so die ersten Italien-Urlaube. Die Beatles und die Stones lärmen durch die Lande und nachdem Mutters Auftritt auf der Berliner Waldbühne wegen völliger Zerstörung derselben nach einem Stones Konzert ausfällt, deklamieren Vater und Urgroßvater ungewohnt einhellig das Ende aller Kultur und den Beginn musikalischer Barbarei. Das lässt mich unbeeindruckt, alldieweil ich gerade wegen mangelnder Tontrefferquote aus dem Schulchor ausgeschlossen wurde. Die Familie ist schwer enttäuscht, ich werde für die Musik verloren gegeben. Zum Trost bastele ich mir aus Mutters Putzutensilien eine Trommel und übe In-a-gadda-da-vida. Das bleibt nicht ohne Verschleiß, den Mutter nicht duldet, also erhalte ich des nun seligen Urgoßvaters Blockflötensammlung und flöte zu Zappa, Hendrix & Deep Purple.
Mitte der Siebziger die erste Band, der erste Synthesizer. Letzterer ist monophon mit vielen Knöpfen, teuer und schwer und wird von Auftritt zu Auftritt geschleppt. Aber das Publikum ist enttäuschend unvorbereitet. Ich bin sicher, mit dem wüsten Arpeggien-Geklopfe meiner Zeit voraus zu sein und wir bringen die Massen in Bewegung, zumeist Richtung Ausgang. Das stimmt mich bedenklich. Also gehe ich in mich - das nannte man damals Selbsterfahrung - und wähle mir zur musikalischen Begleitung Bach und Händel, Stravinsky und Stockhausen, zupfte fortan Konzertgitarre.
Zu Beginn der Achtziger prägt elektronische Präzision neue Klänge. Bill Laswell, Brian Eno, Philipp Glas und technoider Pop dringen an meine Ohren. Ich gelange in den Besitz eines Saxophones und ziehe damit von Band zu Band, um nicht immer dieselben Musiker aus dem Takt zu bringen. Daheim schnippele ich als Kreisklassen-Stockhausen mit Kassetten und Tonbändern herum, vorwärts, rückwärts, will keine Sau hören. Bin ich nun voraus oder hinke ich hinterher? Erinnerungen an den Schulchor werden wach. Ich gründe eine Familie und verzichte künftig auf den Anblick zum Ausgang stürzenden Publikums.
Nach Tschernobyl grabe ich die Rabatte um und denke ans Auswandern, muss aber dringend nach Frankfurt, alte Oper, dritte Reihe. Laurie Anderson weckt die alten Ambitionen wieder. Ein neuer Synth, aber der Sequenzer kann mich nicht überzeugen (er kann nicht rückwärts spielen), außerdem heißt es zu Beginn der Neunziger: mit Samplern klempnern. Allerorten schwärmen mit Dat-Rekordern bewaffnete Musiker aus und füttern ihre Sampler mit Geräuschen tanzender Staubflocken. Der Massenmarkt produziert eine Retro-Welle nach der anderen, alles wird aus der Mottenkiste geholt und mit Geräuschen tanzender Staubflocken unterlegt. Musik wird zu Klanggranulat.
Ich bleibe trotzig, greife wieder zur Gitarre und in die Tasten, suche Mitstreiter und vertreibe für eine kurze Episode wieder Publikum, dem jetzt offenbar das Geräusch tanzender Staubflocken fehlt. Nicht mein Ding, also schmeiß ich wieder hin.
Das erste Jahrzehnt des dritten Jahrtausend: Öffentlich-rechtliches Fernsehen präsentiert die ergrauten Radaubrüder von einst als gepflegte Unterhaltung zur besten Sendezeit. Goldkettenbehängte Farbige verdienen ihr Geld mit über stampfende Rhythmen schnell gesprochenen Texten. Ich deklamiere das Ende aller Kultur und den Beginn musikalischer Barbarei, erinnere mich aber wieder an den Schulchor, schlucke meinen Stolz und meine Eitelkeit hinunter (ein mitunter schwerer Brocken), besorge mir ein wenig Software und melde mich bei MOM an als: Unerbittlich eigen.
PS: Nebenbei habe ich einen Beruf, der mich und meine Familie ernährt.

Account melden