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songfritz

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songfritz am 31.12.12 um 15:34

Kommerzielle Waschbären

Ich mochte die Wirtshaussäle, manche groß und unwirtlich graugrün, manchmal klein, mit niedriger Decke, bräunlich-rustikal, alle immer notdürftig auf Partystimmung dekoriert mit bunten Ballontupfern oder Schummrigkeit erzeugenden Lampenüberdeckungen. Wäre irgendetwas los gewesen ohne unsere Musik? Die Puppen, ob männlich oder weiblich, waren leicht aufgetakelt, die Mädchen meist geschminkt und künstlicher frisiert als sonst. Bei Fast-nachtsveranstaltungen war das echt, sonst halbstarkmöchtegernhip – auch ich trug über dem I-was-in-Carnaby-Street-T-Shirt ein doppelreihiges Hemd mit Rundkragen und eine Glasper-lenkette. Als sich die Mode änderte und jeder anfing, in Jeans herumzulaufen, legten wir uns eine neue, üppigere Besetzung zu und die alten Tanzlieder über kaugummikauende siebzehn-jährige Tänzerinnen verschwanden aus dem Repertoire. Ursache war vermutlich der Ehrgeiz der beiden älteren Bandmitglieder, denen unsere Klassenfetenauftritte nicht genügten. Jeden-falls gab es eine Art umgedrehte Casting-Show, bei der sich verschiedene Sänger vorstellten und ausprobierten, ob wir ihnen gut genug waren. Schließlich taten wir uns mit dem Sänger der „Hawks“ zusammen und nahmen einen anderen Jahrgangsgenossen als Organisten mit ins Boot. Der neue Name bereitete Kopfzerbrechen. Doss, der immer auf dem neuesten Stand war, schwebte etwas Psychedelisches vor nach dem Muster Vanilla Fudge oder Grand Funk Railroad. So wälzten wir mein Wörterbuch und einigten uns dann doch altmodisch auf "Raccoons" - vielleicht auch, weil "Rocky Raccoon" ein Song auf dem gerade erschienenen weißen Album der Überväter des Pop war. Vor allem die musikalische Ausrichtung unseres Sängers, aber auch unsere ansonsten wenig ausgeprägte "Progressivität" ließen uns weiter im Mainstream schwimmen und die wenigen bis dahin entstandenen Eigenkompositionen verschwanden aus dem Repertoire. Kein Abschied mehr von Mona und keine Beschwörung des allgegenwärtigen Big Brother, stattdessen kriegten wir Mädchen unter den Daumen, teilten ihnen mit, dass sie nicht mehr in der Zeit waren, luden sie aber auch in unsere Seelenküche ein und beschworen die schwarzen Zauberfrauen und Königinnen des Mississippi, warnten vor dem Pusher, erzählten vom mitternächtlichen Herumtreiber, von der Frau, die wie ein Mann liebte und machten Reisen auf dem fliegenden Teppich des Steppenwolfs. Hesse las damals keiner von uns. Die Puppen tanzten also weiter, wenn auch immer mehr Leute einfach herumstanden und uns einfach zuhörten, bekleidet in der Einheitskluft Jeans und T-Shirt oder Pulli. Michi perfektionierte sein Basspiel und Doss erweiterte sein Schlagzeug um immer mehr Teile, bis er schließlich mehr Platz einnahm als der Rest der Band. Irgendwann waren wir ihm zu "kommerziell", er verließ uns, um "progressivere" Musik zu machen, etwas, das man heute wohl als "Heavy Metal" bezeichnen würde. Wir schrumpften, Steve übernahm für einen Teil des Repertoires die Orgel und der neue Schlagzeuger war älter, arbeitete schon und musste sich ganz schön anstrengen, um die "progressiveren" Teile unseres Repertoires mittragen zu können. Wir galten aber weiter als "kommerziell", weil wir immer noch Songs drauf hatten, die nach fünf Minuten und ohne lange Soli zu Ende waren. Wir spielten auch bei "Bällen" einer Tanzschule, einer Mädchenschule und der Universität und nahmen an Fastnacht sogar ein paar deutsche Schlager ins Repertoire auf. Die leicht gestiegenen Gagen wurden in neue Gitarren und Verstärker investiert - "kommerziell" war eindeutig eine missglückte Stilbezeichnung, keine finanzielle Kategorie. Nicht ganz zufällig war unser letzter Auftritt Teil einer Modenschau des lokalen Kaufhauses, den wir mit unserer Version von Herbie Mann's "Going Home Babe" beendeten, während Hobbymannequins über die Bühne hüpften.

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