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Praxiswissen: Vinyl-Produktion, Teil 1

Mythos und Trend Vinyl – was Sie wirklich über das Medium wissen müssen
Praxiswissen: Vinyl-Produktion, Teil 1

Wie entsteht die subjektiv empfundene klangliche Wärme bei Schallplatten? Was muss ich bei eigenen Mischungen für Vinyl beachten? Und welche Ausstattungs-Optionen lohnen sich, wenn ich eine Schallplatte veröffentlichen will? Bietet 180-Gramm-Vinyl einen Mehrwert, entstehen durch optische Spielereien wie farbiges Vinyl und Picture-Disks klangliche Kompromisse? Fragen über Fragen, in diesem Artikel beantwortet von Mastering- und Schneide-Personal. Dazu beleuchten wir, warum Schallplatten bei der Fertigung fast immer einen Digitalwandler durchlaufen, wie man per Plug-in Vinyl-Ästhetik emuliert und warum Vinyl besonders bei Nischen-Bands für Chart-Erfolge ausschlaggebend sein kann.

Von Nicolay Ketterer

„Wenn ein Mastering-Engineer bei mir schneiden lassen will, biete ich ihm an, das Hotel zu bezahlen, wenn er vorbeikommt“, erzählt Björn Bieber von Flight 13 Duplication, einer Vinyl- und CD-Duplikationsfirma in Karlsruhe. Den physischen Prozess, was passiert, wenn der Schneidekopf die Höhen schneidet, müsse man erlebt haben. „Es gibt nur wenige Mastering-Engineers, die einen Schneidetisch gesehen haben und wissen, was passiert.“ Die Zusammenarbeit und das Wissen um den Vorgang sei wichtig, sonst beschwere sich am Ende der Künstler, weil das angelieferte Master keinen besseren Kompromiss zugelassen hat. „Vor allem die Höhen sind bei Vinyl ein Problem.“ Bei digitalen Mischungen gibt es keine klanglichen Beschränkungen, entsprechend haben sich Hörgewohnheiten und Mischroutine verändert. „Viele mastern am Anfang viel zu höhenlastig für Vinyl.“ Er müsse dann eingreifen, die Höhen absenken oder schlicht leiser schneiden. Doch dazu später mehr.

Das Medium Vinyl
Rein technisch ist Vinyl alles andere als ideal: geringer Rauschabstand von rund 50 dB, schlechte Stereo-Kanaltrennung, Störgeräusche, Knackser und Rumpeln – von der „Audio-Vergänglichkeit“ durch vielfaches Abspielen ganz zu schweigen. Bei Vinyl geht es hauptsächlich um die entstehende Klangveränderung, die das Medium mitbringt. „Die Schallplatte hat eine mechanische Abtastung, das bedeutet, sie klingt auf jedem Plattenspieler anders“, fasst Björn Bieber die Individualität des Vinyl-Erlebnisses zusammen. Das Phänomen Vinyl und sein Eigenklang gewinnt durch den Retro-Trend kontinuierlich an Bedeutung, mittlerweile ist das Medium auch für unbekannte Bands als Souvenir-Mehrwert beim Merchandising interessant und hat gar auf Chart-Platzierungen Einfluss. Zeit, die Schallplatte genauer zu beleuchten. Was ist die Grundlage des oft als warm beschriebenen Vinyl-Sounds? Und was bedeutet dieses Wissen für die eigenen Mischungen?

Einige der Gründe für die wahrgenommene Wärme laut Mastering-Engineer Bob Katz: „Phasenverschiebungen zwischen den Kanälen fügen eine angenehm klingende ‚Unschärfe‘ des Stereobilds hinzu, die subjektiv empfundene Stereotrennung und -abbildung sowie räumliche Tiefe wird dadurch verbessert.“ Die Phasenverschiebungen sind im ursprünglichen Master nicht enthalten, sie entstehen beim Schneiden und Abtasten einer Schallplatte, da die bewegten Massen von Schneidestichel und Tonabnehmer über- und unterschwingen. Neben der Phasenverschiebung und der dadurch empfundenen Räumlichkeit und Klangtiefe entstehen auch harmonische Verzerrungen, wie Bob Katz ergänzt: „Einige der auftretenden Verzerrungen verbessern wahrgenommen ebenfalls die Kanaltrennung, Tiefe und Wärme. Verzerrung bedeutet Kompression und immer auch eine Änderung der Transienten-Wiedergabe.“

Sein Mastering-Kollege Bob Ludwig ergänzt: „Für die wahrgenommene Wärme kann ein günstiges Tonabnehmersystem mitverantwortlich sein, das keine saubere Höhenwiedergabe liefert. Die überwiegende Mehrheit neuer Pop-Platten wird von digitalen Quellen – oft 24 Bit/96 kHz produziert. Sogar Kritiker attestieren, dass die Vinyl-Version im Vergleich wärmer klingt. Hier spielen Verluste im Höhenspektrum auf Grund der physikalischen Beschaffenheit von Vinyl eine Rolle, was den warmen Eindruck verstärkt.“ Zusätzlich spielt die Position des Songs auf der Platte eine Rolle. Katz: „Von der Außen- zur Innenseite der Platte wird die Auflösung praktisch geringer und der Höhenbereich verliert an Klarheit.“ Die Nadel legt einen geringeren Weg pro Umdrehung zurück, die Geschwindigkeit nimmt im Verhältnis ab. Das Material wird mit geringerer Wellenlänge abgebildet.

Vinyl-„Lautheit“
Ein Lautheitsrennen wie bei CDs erscheint bei Vinyl wenig sinnvoll: Die Abtastnadel des Plattenspielers erlaubt keine übermäßige Lautstärke, weil sie sonst aus der Rille springt, die Auslenkung wäre zu stark. Und selbst bei der machbaren Lautstärke müsse man vorsichtig sein, meint Bob Katz: „Schneidet man ein Master zu laut, verzerren Zischlaute furchtbar.“ Auch Kompression und Limiting führen nicht zu wahrgenommener Lautheit, wie Robin Schmidt von 24-96 Mastering erklärt: „Die Lautheit wird beim Schneiden gemacht. Wie stark Limiting oder Multiband-Kompression eingesetzt wird, hat nur sekundären Einfluss auf die Lautheit einer Schallplatte. Limiting bringt nichts – die kurzen Pegelspitzen abzuschneiden, macht Vinyl nicht lauter. Vor allem aber bei Clipping, also aktiver Verzerrung, die man heute für CD-Lautstärke oft verwendet, entstehen nur Nachteile: es bringt wie erwähnt auf Vinyl keine Lautstärke und auf dem Medium kommen die Verzerrungen viel stärker heraus. Es kann also sein, dass das CD-Master auf der gewollten Lautstärke in Ordnung klingt, aber, wenn man das Vinyl von derselben Quelle presst, das Ergebnis ‚sägend‘ klingt – ohne eine Testpressung kann man das vorher nicht absehen.“

Seine Arbeitsweise: „Für ein Vinyl-Master gebe ich immer eine unbeschnittene Dynamik ab. Derjenige, der an der Schneidemaschine sitzt, wird den besten Kompromiss hinsichtlich des Dynamikumfangs machen.“ Ob diese Unterschiede den Entscheidern in der Industrie geläufig sind? „Nicht immer. Wenn man als Künstler mit einer Plattenfirma oder dem Management zu tun hat, sollte man denen klar machen, dass man die Vinyl-Veröffentlichung von einem separaten Master geschnitten haben möchte.“ Die Bedenken teilt Bob Katz: „Du wärst überrascht, wie viel Vinyl von den superkomprimierten Mastern gezogen wird, die dann einfach leiser geschnitten werden.“ Das sei auch ein Kostenfaktor; er gehe ein auf Lautheit ausgerichtetes Mastering und ein auf Klangqualität optimiertes, dynamisches Mastering anders an. „Es würde etwa anderthalb Tage statt nur einen Tag dauern, eine separate Version zu mastern.“ Ein Problem, wenn am Ende eine hochkomprimierte Master-Aufnahme für Vinyl beim Schneiden in der Lautstärke herunter geregelt wird: Durch die Kompression sind oft starke Höhen und Hochmitten-Anteile vorhanden, die Verzerrungen und Zischlaute beim Abspielen erzeugen können.

Mono im Bass
Eine weitere Klangveränderung spielt sich in den Tiefen ab: „Bei Vinyl wird der Bassbereich traditionell mono-summiert“, erläutert Robin Schmidt. „Dadurch müssen die Rillen weniger breit sein, und man bekommt mehr Spielzeit auf eine Plattenseite und bessere Klangqualität pro Spielzeit.“ Allgemein gelten grob bis 20 Minuten Spielzeit pro Plattenseite als problemlos, bei längeren Spielzeiten werden Bass und Lautstärke weiter abgeschwächt, weil die Rillen enger werden müssen. Umgekehrt waren in den 1980ern Maxi-Singles wegen ihres potenziellen Klangbilds begehrt – auf Grund der größeren Rillenbreite, die für das kürzere Material zur Verfügung stand, waren mehr Bassanteile und Lautstärke möglich. 7-Zoll-Singles dagegen klingen schnell verzerrt in den Höhen, weil die Rillen noch weiter nach innen verlaufen als bei einer LP, mit den von Katz beschriebenen Folgen.

Zurück zum Bass: Die Mono-Summierung wird vom Schneide-Techniker vor Ort selbst vorgenommen, nicht bereits beim normalen Mastering – die Grenzfrequenz wird in Abhängigkeit zur möglichen Rillenbreite des Materials gewählt. Björn Bieber verwendet eine Neumann VMS-80-Schneidemaschine. Die Rillenbreite misst er beim Schneiden durch Erfahrung aus. „Bei der VMS-80 muss man als Techniker selbst nicht mehr so viel leisten wie vorher. Die Maschine zeigt beispielsweise an, wie viel Platz einer Plattenseite bereits belegt ist.“ Im Schneideraum steht auch ein spezielles Neumann-Mischpult, ausgestattet mit Equalizern, um das Signal unter 300 oder 150 Hz mono zu summieren. Die 150-Hz-Einstellung verwendet er nur bei kurzen Produktionen, wo Platz vorhanden ist. In der Praxis kann man sich das Ergebnis klanglich so vorstellen: Bassdrum und Bass liegen ohnehin meist in der Mitte. „Die Monosummierung greift beispielsweise ein, wenn eine Stand-Tom im Stereo-Bild einsetzt oder Hardcore-Gitarren mit vielen Bassanteilen zu stark im Stereo-Panorama liegen.“ Zusätzlich zur Mono-Summierung gilt: „Sehr tiefe Frequenzanteile – unterhalb von 40 Hz – werden oft ganz abgeschnitten“, so Bob Katz.

Das Problem der „springenden Nadel“ tritt auch beim Bass auf. Bob Ludwig erinnert sich an seine Erfahrungen mit The Band. „Wie bei allen ‚laut‘ geschnittenen Platten würden Songs mit sehr vielen Bassanteilen die Nadel springen lassen – besonders damals, als die Leute viele schlechte Tonabnehmersysteme zum Hören verwendeten. Beim Schneiden war es immer eine Frage des Verhältnisses – wie viele der billigen Plattenspieler springen würden und ob die daraus resultierenden Rückläufer der Pressung akzeptabel wären.“ Der Sound der „Band“ war auf ein deutlich wahrnehmbares Bassvolumen aufgebaut, es war Teil der eigenen Ästhetik. „Ich habe für sie Referenz-Exemplare ihres Albums ‚Music From The Big Pink‘ geschnitten. Ein gewerkschaftlicher Schneide-Engineer in New York, der die Pressung schnitt, nahm der Einfachheit halber einen Low Cut bei 80 Hz vor. Das Ergebnis konnte nicht begeistern. Danach sollte ich ihre Platten schneiden.“

Höhen = Hitze
Auch ein so genannter Beschleunigungsbegrenzer arbeitet in Biebers Mischpult, der das gesamte Signal absenkt, wenn die Höhen eine vordefinierte Lautstärke erreichen. „Der Schneidestichel beschleunigt bei höhenlastigem Material teilweise auf das tausendfache der Erdgeschwindigkeit und muss eingebremst werden, sonst verglüht er. Je lauter die Höhen, desto schneller heizt sich der Kopf auf, da die Beschleunigung größer ist. Bei Techno reicht ein Hi-Hat-Schlag und die Temperatur geht hoch“, erzählt Bieber. Bei 180°C schaltet sich das System ab. „Der Temperaturanstieg lässt sich durch den Einsatz von Helium zum Kühlen etwas verlangsamen.“

Vor dem Vinylschnitt Digitalwandlung?
Die „Signal-Verwaltung“ beim Vinylschnitt findet über das Mischpult statt: „Beim Schneiden werden zwei separate Stereo-Signale eingespeist. Das erste Signal dient als Referenz, die der Maschine vermittelt, welches Signal gleich kommt, damit sie sich ausrichten kann. Das zweite, verzögerte Signal geht in den Schneidekopf und wird geschnitten.“ Das Prinzip ist ähnlich dem, was digitale Limiter mit „Lookahead“-Funktion nutzen und mit entsprechender Latenz arbeiten; die Vorschau dient dazu, nicht von starken Signalveränderungen „überrascht“ zu werden. Im Falle von Vinyl dient die „Warnung“ beispielsweise der kommenden Rillenbreite. „Eine Gegebenheit, die viele nicht wahrnehmen: Das Signal, das geschnitten wird, ist selbst mit einer analogen Bandmaschine als Quelle immer digital. Man kann die komplette Signalkette eines Albums analog halten – trotzdem wird letztendlich das digital verzögerte Signal geschnitten. Früher hatte die Bandmaschine einen zweiten Wiedergabekopf, der das verzögerte Signal anlieferte. Mittlerweile erreicht nahezu jeder Anbieter die Verzögerung auf digitalem Weg.“ In Deutschland falle ihm lediglich der Frankfurter Anbieter Schallplatten-Schneid-Technik Brüggemann mit rein analoger Signalkette ein.

Vinylschnitt
Nach einer „trockenen“ Simulation – ähnlich wie beim CD-Brennen – um die Rillenbreite beurteilen zu können, schneidet Bieber den Acetat-Folienschnitt. Die Rillentiefe wird beim Schneiden permanent von der Maschine nachjustiert. „Ich schneide eine Rille und diese Rille wird später auch gepresst. Aber man braucht zunächst eine Version davon, die der hohen Temperatur und dem Druck beim Pressen standhält. Die Acetate sind hochempfindlich, zum Pressen wird ein Abbild aus Metall benötigt. Dazu kommt, dass das Acetat nicht leitfähig ist und man es nicht einfach in eine Galvanik zur Weiterverarbeitung geben kann.“ Deswegen wird das geschnittene Acetat zunächst versilbert und leitfähig gemacht. Die Metallschicht liefert den „Vater“, bei dem die Rillen invertiert sind. Von dem Ergebnis wird die „Mutter“ abgezogen, die die wieder Rillen „richtig“ herum abbildet. Davon wiederum die „Söhne“ oder auch Stamper, die zur eigentlichen Pressung verwendet werden, damit die Rillen „richtig“ herum im Vinyl landen. Ein Stamper ermöglicht die Pressung von 2.000 bis 3.000 Schallplatten, nach sieben bis zehn Stampern sollte die „Mutter“ erneuert werden.

Lackschnitt gegen DMM
Die letzte „Evolutionsstufe“ der Schallplattentechnik: Anfang der 1980er Jahre entwickelte Teldec das DMM-Verfahren („Direct Metal Mastering“). Dabei wird direkt in eine Kupferfolie statt in Lack geschnitten. „Bei DMM spart man einen Schritt, da die Rillen bereits in leitfähigem Metall geschnitten und davon direkt Stamper erstellt werden können. DMM hat allerdings einen ambivalenten Ruf und bietet sich vor allem an, wenn ein eigenes Presswerk zur Verfügung steht, um dort die Kupferfolien selbst herstellen zu können.“ Das spare viel Geld, erzählt Bieber. Technisch bietet der Kupferfolien-Schnitt Vorteile: Keine Höhenverluste, längere Spielzeiten und weniger Nebengeräusche, trotzdem bleibt das Vinyl-Ergebnis Geschmackssache. „Manche Leute beschweren sich, dass DMM metallisch klingen würde, aber so wie unser System früher abgestimmt war, hatte ich diesen Eindruck nie. Der mit DMM ausgestattete Schneidetisch war das akkurateste System, das ich je benutzt habe. Die DMM-Kupferfolien waren ideal für Klassik, da das Vorecho-Problem (ein „Übersprechen“ der Rillen, das bei Lackfolien und der anschließenden Verarbeitung auftreten kann – Anmerkung des Autoren) deutlich geringer ausfiel und 18 Prozent mehr Spielzeit oder alternativ 18 Prozent mehr Lautstärke möglich waren. Bei DMM gilt auch: Je enger die geschnittene Rille, desto nebengeräuschärmer – das genaue Gegenteil von Lackschnitten. Die DMM-Technik und die Teldec-Lizenz waren allerdings unglaublich teuer, dazu noch die Kupferfolien. Das hat wohl mit dazu geführt, dass viele Schneidetechniker heute Lack bevorzugen.“ Inzwischen sind keine kommerziell verfügbaren DMM-Systeme in den USA mehr vorhanden – lediglich die Scientology-Sekte besitzt zwei Geräte, um Reden von deren Anführer L. Ron Hubbard zu vervielfältigen. In Europa existieren immerhin noch neun Systeme, unter anderem in den Abbey-Road-Studios und bei fünf Firmen in Deutschland.

Half-Speed-Mastering
Noch eine weitere Schneidetechnik ringt um die Gunst der Vinyl-Enthusiasten: Der Begriff „Half-Speed-Mastering“ findet sich als vermeintliches Qualitätskriterium bei audiophilen Vinyl-Auflagen. Was hat es damit auf sich? Die Folie wird mit halber Geschwindigkeit – also 16 2/3 Umdrehungen pro Minute statt 33 1/3 – geschnitten, das Master wird – digital oder analog – ebenfalls mit halber Geschwindigkeit zugespielt. Der Vorteil: Der Schneidestichel kann hohe Frequenzen genauer abbilden, da beispielsweise Höhen bei 20 kHz nun mit 10 kHz geschnitten werden; die Masseträgheit des Stichels und dadurch entstehende Fehler beim Schneiden wirken sich bei tieferen Frequenzen weniger gravierend aus – das Ergebnis ist eine originalgetreuere Abbildung des oberen Frequenzbereichs als bei normaler Geschwindigkeit. Soweit die Theorie. Bob Ludwig sieht das ambivalent: „Half-Speed-Vinylschnitt wurde für originalgetreuere Höhenwiedergabe entwickelt. Das Problem: Die RIAA-Equalizer-Kurve, mit der Vinyl geschnitten wird, ist komplex, und die muss man bei Half-Speed-Mastering ebenfalls halbieren, damit das Ergebnis nachher beim Anhören mit voller Geschwindigkeit stimmt. Dazu braucht es zusätzliche starke Equalizer-Bearbeitung in der Signalkette, was „Ringing“ (unerwünschte „Nebenschwingungen“ – Anmerkung des Autoren) verursacht und andere Artefakte, die speziell bei analogen Equalizern entstehen. Und wenn der Schneidekopf bei voller Geschwindigkeit einen geraden Frequenzgang bis 25 Hz aufweist, gilt das bei Half-Speed effektiv nur bis 50 Hz, wenn man das Vinyl nachher normal abspielt.“ Die Technik sei ein zweischneidiges Schwert. „Als ich 1968 bei A&R Recording arbeitete, haben wir Half-Speed bei manchen Projekten verwendet, wo das Ergebnis den Kompromiss wert war. Der damalige Neumann SX-15-Schneidekopf war alles andere als linear. Mit dem Nachfolger SX-68, in allen Belangen viel besser, war der Vorteil von Half-Speed und den verschobenen Frequenzen beim Schneiden nicht mehr sonderlich groß und war keine automatische Verbesserung mehr. Half-Speed ist letztendlich nur ein weiteres Tontechnik-Werkzeug. Mache einen A/B-Vergleich zwischen einer normalen Schallplatte und ihrer Half-Speed-Auflage und entscheide selbst, welche besser klingt.“

Mehr oder weniger?
Was muss eine Band, die sich für eine Vinyl-Auflage entscheidet, beachten? Was bringt der „180 g-Fetisch“, die besonders dicke Vinyl-Ausführung, mit der aktuelle Pressungen gerne beworben werden? „Das hat keinen Einfluss auf den Sound, es ist nur haptisch hochwertiger“, erzählt Bieber. Ob die gesteigerte Masse weniger zu Verformungen neigt? „Im Gegenteil: Die 180-g-Platten halten wegen der Masse schwerer ihre Form als die üblichen 130 g.“ Das Mehr an Masse verziehe sich leichter. Der aktuelle Standard von 130 g wurde früher sogar noch unterlaufen, teilweise lag das Plattengewicht bei 100 g, meint Bieber.

Farbe statt schwarz?
Oft wirken andersfarbig gestaltete Schallplatten für Sammler besonders begehrenswert wegen des optischen Eindrucks. Beim Thema farbiges Vinyl ranken sich Mythen um Klangqualität und Herstellung. „Manche Farben, etwa weiß, enthalten angeblich Metallpartikel, was die Klangqualität verschlechtern soll.“ Biebers praktische Erfahrung entzaubert den Mythos: „Ich habe noch nie einen Unterschied gehört.“

Picture-Disks
Ganz anders sieht es bei Picture-Disks aus, die ein Bild als Hintergrund verwenden statt Farbe. Das Vinyl dient lediglich als Trägermaterial, darauf befindet sich bedrucktes Papier mit dem jeweiligen Motiv. „Die eigentliche Rille ist lediglich eine dünne Folie.“ erzählt Bieber. „Sobald sich die Nadel über dem Papier befindet, rauscht es. Da das Vinyl hier für den Klang nicht ausschlaggebend ist, wird bei Picture-Disks ausschließlich Re-Granulat, also geschreddertes und wiederaufbereitetes Vinyl verwendet.“ Kommt bei einer normalen Schallplatte recyceltes Vinyl statt so genanntem „Virgin Vinyl“ zum Einsatz, ist Vorsicht geboten: Beim Recycling können Schallplatten und ihre Label-Aufkleber nicht sauber getrennt werden, weshalb sich der Rauschabstand verringert.

Den eigenen Mix optimieren
Zur eigenen Produktion für Vinyl: Wie erstellt man – abgesehen vom Verzicht auf Lautheits-Komprimierung – eine „sinnvolle“ Mischung, damit das Ergebnis beim Schneidern nicht komplett verändert werden muss? Robin Schmidt: „Das Material darf nicht zu viele Bassanteile haben – was gerade bei basslastiger Musik zum Problem wird. Ansonsten muss das Master sehr leise geschnitten werden. Zweitens sollten sich möglichst wenig außerphasige Signale im Bassbereich befinden. Die Phasenauslenkung ist die Seitenbewegung in der Rille, das braucht Rillenbreite. Wenn man einen Stereo-Synthesizer hat, der bei 50 Hz noch sehr breit ist, kann das der Vinyl-Engineer nicht schneiden, deshalb wird dann monosummiert. Im Zweifelsfall helfen Analyzer und Phasenlage-Anzeigen.“ Das dritte Problem sind die bereits erwähnten Höhen: „Es kommt nicht darauf an, ob die Mischung hell klingt – es geht darum, wie viele Höhen in sehr kurzer Zeit auftreten. Problematisch sind S-Laute, Zischlaute und Becken. Ein S-Laut hat sehr viele Höhenanteile. Im Spektral-Editor in Wavelab lässt sich die Intensität sehr gut nachvollziehen. Da lohnt es sich, für ein Vinyl-Master den De-Esser einzusetzen, sodass die extremen Zischlaute leicht abgesenkt werden, aber die Musik möglichst unbeeinflusst bleibt.“ Problematisch sind auch klassische Drumcomputer mit ihren „Sprühdosen-Hi-Hats“, wie Schmidt sie nennt – weil dort viel Höhenenergie fast statisch konzentriert ist.

Sound oder Sicherheit
„Die Cutter haben für Plattenfirmen oder Presswerke gearbeitet. Die Auftraggeber legten vor allem Wert darauf, dass es keine technischen Probleme oder Rückläufer geben würde. Sie waren auf Sicherheit bedacht, nicht auf künstlerische Nuancen.“ Das sei heute innerhalb eines Presswerks nicht anders. „Man schneidet eher mit etwas weniger Bass, weniger Höhen, eher leiser und mit höherer eingreifender Mono-Summierung. Wer klanglich mehr herausholen möchte, sollte zu einem unabhängigen Schneide-Engineer gehen. Der wird nicht dafür bezahlt, dass es keine Rückläufer gibt, sondern dafür, dass das Ergebnis so gut wie möglich klingt und der Kunde zufrieden ist.

Was bleibt als Erkenntnis? Björn Bieber von Flight 13 Duplication hat Freude an der Schallplatte, sieht das Medium allerdings pragmatisch: „Vinyl kann nie so gut klingen wie die CD, weil so viele physikalische Grenze existieren.“ Wenn diese Limitierung von einigen Konsumenten und Produzenten als „angenehm“ empfunden wird, schließt sich eine interessante Frage an. Nämlich die, ob die eigene Produktion grundsätzlich geglückt ist, wenn erst die Vinyl-Klangverfärbung zum ästhetisch gewünschten Ergebnis führt.

Vinyl-Klangveränderung als Plug-in
Falls die Ästhetik dennoch für den eigenen Mix gebraucht wird, geht das bei Bedarf auch ohne den „Umweg“ über Vinyl: So verspricht beispielsweise Cranesong mit dem Plug-in Peacock jene HiFi-Vinyl-Ästhetik, die durch Transientenmodulation und harmonische Verzerrungen entsteht. Das ist ein neues Terrain auf dem Plug-in-Markt, wo bislang nur LoFi-Vinyl-Artefakte emuliert wurden. Der Effekt eignet sich besonders dann, wenn Quellmaterial hart klingt oder harmonische Obertöne verdichtet werden sollen, neben Summenbearbeitung auch auf Einzelspuren wie Gesang, E-Gitarren, Bass oder Schlagzeug. Die Bearbeitung klingt subtil, hochwertig und vermittelt gut die gefühlte Laufruhe von Vinyl. Mit 416,50 Euro ist Peacock nicht günstig, bietet dafür aber ein Werkzeug auf Mastering-Niveau. Das Plug-in ist nur für Pro Tools (ab Version 10) im AAX-Format verfügbar, eine Demo-Version ist bei Akzent Audio erhältlich (www.akzent-audio.de). Interessanter Einblick: Die Audiobeispiele beim Hersteller zeigen im Direktvergleich mit digitaler Quelle und abgetastetem Vinyl, wie nah ein guter Transfer am Original liegen kann (www.cranesong.com). Wer die Equalizer-Einschränkungen hin zu Vinyl nachvollziehen möchte, findet bei Airwindows mit ToVinyl 3 ein Werkzeug, um Bass-Summierung, Hochpassfilter, Höhenbegrenzung – wie sie beim Schneiden vorgenommen werden – einzustellen, oder Nadelabnutzung zu simulieren (www.airwindows.com, AU-Format). Das Plug-in kostet 50 US-Dollar (ca. 37 Euro), eine Demo-Version ist ebenfalls erhältlich. Für klassische Vinyl-Artefakte kann ich indes iZotope Vinyl empfehlen. Es simuliert die Abnutzungserscheinungen bei verschiedenen Geschwindigkeiten, mechanische wie elektrische Störgeräusche, Staub und Kratzer sowie Equalizer-Settings für die Ästhetik vergangener Jahrzehnte. Klangqualität und Vielfalt sind beeindruckend. Das Plug-in ist als Freeware (www.izotope.com) im RTAS, AudioSuite-, VST-, MAS-, AU- und DirectX-Format erhältlich.

Und die Idee, dass – rein analoges – Vinyl nach „Mehr“ klingt als ein digitalisiertes File? Das wiederlegt das „Einfangen“ einer Schallplatte im Rechner, mit hoher Auflösung; sehr viel vom „Vinyl-Erlebnis“ ist nämlich digitalisierbar. Damit beschäftigen wir uns im zweiten Teil in der kommenden Ausgabe.

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Charts-Demokratie?
„Das Medium Vinyl ist für den Chart-Erfolg wichtiger denn je“, erläutert Mastering-Engineer Robin Schmidt. Der Grund: „Seit einigen Jahren ist für die Charts-Platzierungen in Deutschland nicht mehr die Anzahl der verkauften Tonträger pro Woche ausschlaggebend, sondern der generierte Umsatz. Dadurch ist die Wichtigkeit von Deluxe-Ausgaben, Sammler-Boxen und Zusatzveröffentlichungen gestiegen. Ein Rechenbeispiel: Ein Künstler hat 10.000 Hardcore-Fans, von denen sich 5.000 die Sammler-Box für 50 Euro kauft. Plötzlich hat man 250.000 Euro Umsatz statt nur 50.000 Euro. Das kann den Unterschied zwischen Platz 1 und Platz 5 der Album-Charts ausmachen. Es ist einer der Gründe, warum in den letzten zwei Jahren plötzlich Nischen-Bands an der Spitze der Charts landeten, die eigentlich moderate Stückzahlen verkaufen, aber deren loyale Fans Spezialausgaben kauften.“ Ihm fallen Mittelalter-Bands wie Saltatio Mortis ein, die mit ihrem Album „Das Schwarze Einmaleins“ letztes Jahr Platz 1 erreichten. Oder Schandmaul, dieses Jahr mit „Unendlich“ auf Platz zwei. Dadurch erfahren die jeweiligen Bands mehr Aufmerksamkeit. „Vinyl ist auch deswegen an der Stückzahl gewachsen, weil es für Spezialausgaben Exklusivität vermittelt, um die Umsätze zu steigern.“

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Die RIAA-Kurve
Abgesehen von der ästhetischen Klangveränderung findet bei Vinyl eine Klangverformung statt, die der Hörer im Normalfall kaum mitbekommt. Wer seinen Plattenspieler bereits versehentlich an den Aux- statt dem Phono-Eingang seines HiFi-Verstärkers angeschlossen hat, wird erstaunt sein über den dünnen Sound, der gänzlich auf Bass-Fundament verzichtet. Eine Schallplatte enthält eine „eingebaute“ Equalizer-Kurve, welche die Bässe bei 50 Hz um -17 dB (bei 500 Hz um -3 dB) absenkt und die Höhen ab 2.120 Hz um 3 dB anhebt, die RIAA-Kurve – ein von der „Recording Industry Association of America“ festgelegter Standard. Sie entspricht einer technischen Notwendigkeit: Die Bassanteile, voll abgebildet, bräuchten zu breite Rillen, und könnten von der Nadel auf Grund der entstehenden Vibrationen nicht abgetastet werden. Der Höhenbereich würde ohne zusätzliche Anhebung auf dem Vinyl im Rauschen untergehen. Beim Abspielen braucht man das passende Gegenstück, ein Phono-Vorverstärker liefert neben Verstärkung auch eine invertierte Equalizer-Kurve. Bob Ludwig: „Die RIAA-Kurve kam um 1956 auf und wurde ab 1960 weltweit eingesetzt – einer der wenigen weltweit gültigen Standards.“ Auch hier verformt sich der Klang leicht, je nach eingesetztem Schneidesystem und Phono-Vorverstärker beim Hören, durch Resonanzen der jeweiligen Equalizer.


von  Professional audio am 22.12.2014
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